Macht und Machtstrukturen in Gemeinden

Was muss seinund was nicht?

Von Dr. med. Martin Grabe

Über kurz oder lang stolpert jeder darüber, der in einer Gemeinde mitarbeitet. Gerade, wenn er mit einer idealistischen Vorstellung an seine Arbeit herangegangen ist. Über Machtausübung nämlich. Macht in der Gemeinde. Man kann daran zerbrechen. Da kommt zum Beispiel eine junge Frau, begeistert von einer Bibelschule als Gemeindehelferin in ihre erste Gemeinde. Genau genommen sind es drei, es gibt auch noch zwei kleine Zweiggemeinden in Dörfern in einigen Kilometern Entfernung. Bisher gab es zwei kleine Jugendgruppen, die sich so über die Runden quälten, in einem der Dörfer seit langer Zeit keine mehr. Silke, so heißt unsere Bibelschulabsolventin, möchte die Jugendarbeit auf jeden Fall zusammenlegen, weil sie weiß, dass Jugendliche sich in größeren Gruppen viel wohler fühlen und das Ganze dann auch deutlich an Attraktivität für Außenstehende gewinnt. Außerdem haben alle Eltern Autos. Im Einstellungsgespräch hatte es auch so gewirkt, als ob sie sich selbst ihre Arbeit kreativ organisieren darf. Bei den Kindergottesdiensten möchte sie die bisherigen ehrenamtlichen Leiter unterstützen, aber nur in einer Gemeinde selbst mitgestalten. Zusätzlich möchte sie an einem Nachmittag eine Jungschar aufbauen. Vereinbart war schon, dass sie sich auch in der Frauen und Seniorenarbeit engagieren soll. Als sie nach ihrer Amtseinführung in einer gemeinsamen Ältestensitzung ihre Pläne vorstellt, fällt Silke schnell auf, wie verschlossen diese überwiegend grauhaarigen Herren wirken, mit denen sie da zusammensitzt. Einer redet leise mit einem anderen, ein anderer schenkt sich schließlich erstmal umständlich Roibusch-Tee nach und sagt dann mit jovialem Lächeln, aber in sehr kräftigem und bestimmendem Tonfall, dass es ja sehr interessant sei, was sie sich da so alles ausgedacht habe, aber dass man darüber natürlich noch einmal reden müsse. „Es ist aber immer gut, wenn junge Leute erst einmal neue Ideen mitbringen.“ Dann weist er auf die volle Tagesordnung hin und bittet den Pastor, doch zum nächsten Punkt überzugehen. Der leitet die Sitzung an diesem Abend, guckt etwas unglücklich und liest dann den nächsten Tagesordnungspunkt vor. Wenige Tage später hat Silke dann ein Gespräch beim Pastor, das im Wesentlichen darin besteht, dass er ihr vermittelt, dass es in seinen drei Gemeinden völlig undenkbar ist, bestimmte Arbeitsgebiete zusammenzufassen, schon gar nicht die Kinderarbeit. Er habe derartig viele erschrockene und betrübte Anrufe in den letzten Tagen erhalten, immer mit der Bitte, solche Pläne doch zu verhindern. Gerade in den Dorfgemeinden gebe es überwiegend alte Geschwister, denen seien die Fahrten einfach nicht zuzumuten. Silkes Argument, dass es ihr ja vor allem um die Jugendarbeit ging, sticht nicht. Gerade da würde die Gefahr gesehen, dass nichts Gutes dabei herauskommt, wenn man „die jetzt zuhauf in die Stadt karrt“. Der Pastor wirkt wieder unglücklich, steht offensichtlich zwischen den Stühlen, aber das Ergebnis ist klar. Silke hat die Aufgabe, an allen drei Standpunkten einzelne Jugendgruppen aufzubauen, drei Frauen- und drei Seniorenkreise zu leiten, wenn auch zum Teil zweiwöchentlich, und auf Dauer soll sie auch gerne Jungschargruppen in den Gemeinden einrichten. Silke geht es tapfer an. Allerdings merkt sie bald, dass die verschiedenen Gruppen fast jeden Abend der Woche besetzen, sie ab sofort also praktisch kein Privatleben mehr hat. Und sie merkt, dass es in der Gemeindekommunikation kein Einzelfall war, was sie da gleich zu Anfang erlebt hat. Immer wieder hört sie von irgendwelchen Beschwerden über sich, die ihr aber nicht direkt gesagt werden. Bei einem bestimmten Ältesten scheinen sich die meisten zu beschweren. Er selbst betont immer, wie er sie verteidige und ihre Arbeit prinzipiell schätze. Silke merkt, dass sie immer empfindlicher reagiert, wenn so etwas kommt. Sie fühlt sich beobachtet und auch ihren Gruppen gegenüber gehemmt. Es fällt ihr immer schwerer, freundlich und unbefangen wie anfangs zu sein.

Dr. med. Martin Grabe (Foto: privat)
Dr. med. Martin Grabe (Foto: privat)

Dr. med. Martin Grabe, Psychiater und Psychotherapeut, ist Chefarzt der Psychotherapeutischen Abteilung der Klinik Hohe Mark in Oberursel. Martin Grabe ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Kronberg/ Taunus. Bücher u. a.: „Lebenskunst Vergebung“, „Die Alltagsfalle“, „Wege aus der Trauer“, „Zeitkrankheit Burnout“ (alle im Francke-Verlag erschienen).

Als ihr dann auch noch eine lange geplante Freizeit mit den Jugendlichen – angeblich aus Kostengründen – untersagt wird, kann sie nicht mehr. Sie fällt erst einmal wegen einer Depression länger aus. Es gibt natürlich sehr viel mehr Beispiele mehr für Machtausübung in der Gemeinde. Pastoren, die von bestimmten Ältesten durch chronische Blockaden zur Verzweiflung gebracht werden. Oder engagierte Gemeindemitglieder, die der Pastor als Bedrohung empfindet und deswegen ausbremst. Geradezu traumatisch wirken können offene unerwartete Angriffe während einer Gemeindeversammlung.

Und jede Motivation zerstören kann verdeckte Meinungsmache im Hintergrund. Ein engagierter Jugendleiter zum Beispiel erfährt erst dann davon, wenn ihm auf einmal – unerwartet und schroff – eine Aktivität untersagt wird. Einerseits muss er das unverständliche Verbot nun seinen Jugendlichen verkaufen, die er doch nicht der Gemeinde entfremden will, und andererseits erfährt er nie die wirklichen Hintergründe der Entscheidung, oder wer eigentlich vor allem dahintersteckt. In der Gemeindearbeit stolpern Menschen leider oft über Machtausübung. Macht wird meist aus sicherer Position heraus ausgeübt. Entweder ist das Ungleichgewicht so groß, dass Menschen sich trauen, offen Macht zu gebrauchen, oder sie tun es subtil. Indem sie an geeigneter Stelle Besorgnis äußern über irgendeinen Sachverhalt in der Gemeinde, was oft viel auslöst, sie aber aus dem Schussfeld heraushält. Auch Sachgründe vorzuschieben ist ein häufiges Stilmittel der Macht („Das können wir beim besten Willen nicht bezahlen“). Für diese destruktive Art von Machtausübung in der Gemeinde gibt es drei Hauptmotive.

Narzissmus, Angst und Bequemlichkeit

Mit Narzissmus meine ich vor allem, dass Gemeindemitglieder an ihrem Posten viel ihres Selbstwertgefühls festgemacht haben, und ihn deshalb wie einen Teil ihrer selbst verteidigen. Hier sind Hauptamtliche, sprich Pastoren und langjährige Älteste am meisten gefährdet. Bei näherem Hinsehen gibt es hier allerhand Platzhirschgehabe. Wenn auch oft ganz gut getarnt.

Es ist ja auch kein Wunder, wenn jemand, der sich sehr stark für seine Aufgabe engagiert, sich auch persönlich mit dieser identifiziert. Oft ist es nur so, dass auch dann, wenn die Aufgaben gewachsen sind, oder die Energie nicht mehr so da ist wie mit 30 Jahren, immer noch der Selbstanspruch besteht, in allem am meisten zu wissen und zu können. Das macht ehrliches Delegieren von Aufgaben fast unmöglich und anderen Mitarbeitern das Leben schwer.

Bei guten Ideen anderer kommt es leicht zu Eifersucht und Neid, weil es die eigene Alpha- Position gefährden würde, wenn diese neuen guten Ideen kursbestimmend würden.

Angst ist ein weiteres Motiv der Machtausübung in der Gemeinde. Hier denke ich vor allem an diejenigen, die sich in ihren Glaubensauffassungen bedroht sehen. Ich kenne Menschen, wo dieses Gefühl der Angst schon einsetzt, wenn das Vaterunser im Gottesdienst fehlt. Sie fühlen sich bedroht und reagieren aggressiv. Spricht man mit ihnen über den entsprechenden Gottesdienst, entwerten sie ihn in Bausch und Bogen, gar nicht mehr in der Lage, die Predigt als solche von ihrem Inhalt her zu würdigen. Ihr Problem ist, dass sie aufgrund ihrer mangelnden spirituellen Binnenstruktur dieses Stück Außenstruktur unbedingt brauchen. Bei anderen sind es bestimmte evangelikale Grundwahrheiten, die in einer Predigt unbedingt vorgekommen sein müssen, sonst ist es keine gute Predigt, und wieder andere reagieren sehr ängstlich auf bestimmte Reizthemen. Gerade wenn Angst das Motiv ist, ist oft sehr viel Wut hinter einer Machtausübung spürbar, manchmal erschreckend viel Wut. Der vermeintlich falsch Lehrende wird zum Gegner, der möglichst vernichtet werden muss. Es scheint für die Betroffenen um eine existentielle Gefährdung zu gehen. Und sie schlagen um sich, um ihre Haut zu retten.

Und 3. ist auch die Bequemlichkeit ein Motiv für Machtausübung in der Kirche. Solange alles so bleibt, wie es immer war, brauchen wir nicht darüber nachzudenken und auch nichts zu tun. Jede Anfrage, die wir abwehren, spart Arbeit und Einsatz. Am besten lassen sich neue Ideen durch Bedenkentragen totreden, in Mitgliederversammlungen zum Beispiel. Besonders gut macht sich dabei immer das Argument der Rücksichtnahme, zum Beispiel auf alte Geschwister, denen solch ein Trubel gar nicht zuzumuten sei. Es gibt auch eine Machtausübung durch Liegenlassen. Bei den bisherigen Beispielen für gemeindlichen Machtgebrauch in all seiner Destruktivität sind wahrscheinlich manchen Lesern Erinnerungen gekommen an selbst leidvoll erlebte Beispiele. Es gibt viele Gründe dafür, die Frage zu stellen, ob es im Raum der Gemeinde, wenigstens im Raum der Gemeinde, nicht bitte auch ohne Macht gehen kann. In der Kirchengeschichte gab es ja immer wieder einmal Menschen, die diese Frage gestellt haben, und auch versucht haben, Gewaltlosigkeit zu leben. Von manchen Äußerungen Jesu her könnte man auch durchaus auf den Gedanken kommen, dass das sein Ideal gewesen sei, z. B. in Matthäus 20: 25 Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. 26 So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; 27 und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, 28 so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele. Auf der anderen Seite steht: Schon im ganz frühen Christentum wurde deutlich: Es geht nicht ohne Macht. Es wurden autoritäre Strukturen nötig und sie wurden geschaffen. Die erste Diakonenwahl fand aus dem ganz praktischen Grund statt, dass es vorher bei der Essenverteilung immer Streit gab und hier Regelungsbedarf entstand. Die Urgemeinde hatte von Beginn an eine Leitung und in jeder neu gegründeten Gemeinde wurden Älteste eingesetzt. Wie ist das nun zu verstehen? Gibt es gute und schlechte Machtausübung? Oder war das ein früher Fehltritt der Urgemeinde, eine verhängnisvoll falsche Weichenstellung? Interessant sind in diesem Zusammenhang die Experimente von Wilfred Bion, einem englischen Psychiater, der in der Nachkriegszeit untersuchte, was eigentlich passiert, wenn Menschen ganz bewusst keine Leitung bekommen. Hierzu instruierte er die Leiter von Arbeitsgruppen, sich strikt von allen Entscheidungen zurückzuhalten (was die Teammitglieder nicht wussten) – und beobachtete dann, was passierte. Erstaunlicherweise kam es regelmäßig zu nur drei verschiedenen Möglichkeiten. Solch eine vom Leiter dadurch im Stich gelassene Gruppe, dass er nicht leitete, entwickelte sich entweder 1.zur Kampf-Flucht-Gruppe. Damit meint Bion, dass die Gruppe das Gefühl entwickelt, bedroht zu sein und entweder gegen feindlich gesinnte Andere zu kämpfen hat oder davor fliehen möchte. 2.zur Abhängigkeitsgruppe. Hier erwarten die Mitglieder nachdrücklich Versorgung und Schutz durch den Leiter. Sie fühlen sich nicht in der Lage oder dafür zuständig, selbst etwas zu tun. 3.zur Paarbildungsgruppe. Damit meint Bion eine Atmosphäre von unrealistischer Erwartung und Euphorie, wie sie am ehesten bei Verliebten zu finden ist. Gemeinsam war aber all diesen Gruppenformen, dass die Gruppen sich fast nur noch mit sich selbst beschäftigten und kaum noch in der Lage waren, eine konstruktive und effektive Arbeit nach außen zu leisten. Er schloss daraus, dass die meisten Menschen eine zwar freundliche, aber auch klare Leitung brauchen. Anderenfalls blieben sie weit hinter ihren eigentlichen Möglichkeiten zurück. Erst eine gute Leitung verhilft vielen Menschen dazu, ihr ganzes Potential zu erschließen. Außerdem bewirkt gute Leitung, wie in den Beispielen Bions, viel unnötigen und unreifen Streit, Angst und Wut gar nicht erleben zu müssen. Wer diese Erkenntnis akzeptiert, dass es ohne Leitung einfach nicht geht, aber gleichzeitig den obigen Ausspruch Jesu ernstnimmt, für den zeichnet sich ein bestimmter Weg ab: Leitung ist auch in der christlichen Gemeinde nötig, sie ist im Sinne Jesu aber nur als dienende Leitung möglich! Alles andere widerspricht wesentlichen Grundgedanken des Christentums. Und das ist nun etwas deutlich anderes als die negativen Gemeindebeispiele oben! Dienende Leitung heißt: Ein Leiter versucht, seinem Mitarbeitenden darin zu dienen, dass dieser seine wichtige Aufgabe gut erfüllen kann. Voraussetzung ist, dass ein Leiter es überhaupt wichtig findet, was seine Leute machen. Nur mit ihrer Aufgabe versöhnte Leiter, von ihrer Aufgabe überzeugte Leiter, können gute Leiter sein. Und zweitens müssen es Menschen sein, die vom Wert der ihnen anvertrauten Menschen überzeugt sind. Denen daran liegt, dass die in ihrem Bereich Tätigen zu einer menschlichen und beruflichen Sinngebung und Erfüllung kommen. Wie wäre es, wenn ein Pastor sich mit seinen Kindergottesdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeitern zusammensetzt, ihnen signalisiert, dass sie eine unglaublich wichtige Aufgabe erfüllen, dass er ihnen sehr dankbar dafür ist und sie dann fragt, wie er sie denn in ihrer Arbeit unterstützen kann. Wenn er sich dafür einsetzt, dass sie unbürokratisch und schnell das Material bekommen, das sie brauchen. Vielleicht dürfen sie auch einmal zu einer teuren Kindergottesdienstfortbildung ihrer Wahl. Oder wenn eine Gemeindeleitung ihrem Flüchtlingshelferkreis das Leben leicht macht. Vielleicht bedeutet es, die Regeln für die Nutzung der Gemeinderäume einmal nicht so streng zu sehen wie sonst, oder Geld für gemeinsame Essen nach dem Sprachkurs zur Verfügung zu stellen. Wer dienend leitet, ist Vorbild im Dienen. Er macht es auch seinem Team leichter, wiederum denen zu dienen, für die das Team da ist. Und das wiederum bedeutet, dass diese Leute viel lieber in die Gemeinde kommen. Eine Gemeinde, in der sich das Dienen als Leitungsstruktur durchgesetzt hat, ist eine wachsende Gemeinde.

1 Genauer nachzulesen in: Martin Grabe: Welche Legitimierung hat Macht in der Gemeinde? In: Haubeck/Heinrichs: Dem Leben ein Zuhause geben, Theologische Impulse, Band 20, SCM Bundes-Verlag 2 Wer mehr dazu wissen möchte, dem empfehle ich Hybels/ Hodges: Das Jesus-Prinzip, Projektion J.