Dechant Franz Langstein, Pfarrer der Kugelkirchengemeinde St. Johannes. Foto: privat
Dechant Franz Langstein, Pfarrer der Kugelkirchengemeinde St. Johannes. Foto: privat

Auf ein Wort

 

Tiefgang des Lebens

 

Von
Franz Langstein

 

Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht, liebe Leserinnen und Leser, wenn der Mai da ist. Endlich ist die dunkle Jahreszeit vorbei. Wenn der November beginnt, dieser triste und nasskalte Monat, steigt in mir die Sehnsucht hoch nach dem Mai. Ich denke dann jedes Mal: Wenn es doch dann endlich bald wieder Mai ist. Nun ist er da! Schon im November ersehnt. Und doch weiß ich: Der Mai ist zwar da und mit ihm die schöne Jahreszeit – aber wir können das alles nicht festhalten. Der November kommt auch wieder. Unaufhörlich dreht sich nun mal die Erde um die Sonne und definiert dadurch die Jahreszeiten. Ein Rhythmus von 365 Tagen, Milliarden Jahre dauernd. Und wir darin eingebettet. Höhen und Tiefen, Licht und Dunkel, Wärme und Kälte – im steten unaufhörlichen Wechsel. Und wir sind mitgenommen in den Rhythmus. Und das macht was mit uns. Die Kälte lässt uns die Wärme ersehnen. Das Dunkel macht uns sensibel für das Licht. Die Trauer öffnet uns für die Freude. Ist es nicht so im Leben? Wer Krankheit erlebt hat, ist dankbar für die Gesundheit. Wer Armut kennen gelernt hat, weiß Wohlstand zu schätzen. Es sind gerade die Gegensätze, die unser Leben emotional so reich machen. Die Gegensätze sorgen für den Tiefgang des Lebens. Das Erleben von Natur mit den wechselnden Jahreszeiten ist da sehr hilfreich. Wer diese von Natur gegebenen Gegensätze so nicht mehr erlebt, weil er vielleicht Tag und Nacht am Computer sitzt, mit seinem Handy spielt oder sich vom Fernseher berieseln lässt, ist in der Gefahr, das Leben nur oberflächlich wahrzunehmen. Ein Beispiel: Im Oktober letzten Jahres ging ich durch die Stadt Marburg, als Vogelgeschrei meine Aufmerksamkeit gen Himmel lenkte. Und da sah ich einen großen Schwarm Kraniche nach Süden ziehen. Äußerst beeindruckend. Ich war so voll Freude. Da kam mir ein junger Mann entgegen, in seinem Ohr hatte er „Stöpsel“, mit denen er Musik hörte und – in sich eingeschlossen – das Naturspektakel zu versäumen drohte. In meiner Faszination für dieses Naturereignis tippte ich ihm auf die Schulter. Er nahm seine „Stöpsel“ aus den Ohren, Krach dröhnte aus den Stöpseln, und ich machte ihn auf die Kraniche aufmerksam. Er sah sie und ging achselzuckend davon. Er verschloss sich wieder mit seinen „Stöpseln“. Schade. Schön, dass der Mai wieder da ist. Deshalb schön, weil es auch den November gibt. Ich glaube, die Jahreszeiten helfen uns, tiefer zu leben. Nehmen wir das Leben, wie es ist. Und vielleicht erreicht der Mensch jene emotionale Tiefe, mit der er dann an die Gottesfrage rührt. Denn Gott ist nur in der Tiefe erahnbar.